Zum Inhalt springen

Mitgefühl – mit uns selbst und anderen

    Mitgefühl – mit uns selbst und anderen 

    12/11/2019

    Wie wir lernen, liebevoller mit uns umzugehen

    Mitgefühl – mit uns selbst und anderen 

    Als ich vor einigen Wochen in Kassel auf einen Zug wartete, ertönte eine Durchsage am Bahnsteig: „Der ICE nach München hat Verspätung wegen Personenschaden.“ Ein Geschäftsmann neben mir zückte unmittelbar sein Handy, wählte eine Nummer und fluchte laut: „Guten Morgen, Frau Maier. Da hat sich anscheinend wieder ein Idiot vor den Zug geworfen. Ich melde mich, sobald ich hier weg komme.“ Ich schaute mich auf dem vollen Bahnsteig um und konnte auch in Gesichtern verschiedener anderer Reisender offensichtlichen Unmut sehen. Eine Dame neben mir war sehr verärgert, schaute mich an und schüttelte missbilligend ihren Kopf. „Jetzt bekomme ich meinen Anschlußzug nicht mehr und muss 2 Stunden warten.“. Es war kalt und regnerisch. Auch ich reagierte verärgert. Hatte ich mich doch schon so sehr auf eine Tasse heißen Tee im Zugrestaurant gefreut.

    Nachdem der erste Ärger verflogen war, gingen meinen Gedanken voller Empathie zu dem Menschen, der die Verspätung verursacht hatte. Wie immer, wenn ich von einem möglichen Suizid hörte, machte sich Betroffenheit in mir breit. Ich stellte mir vor, wie unendlich groß das eigene Leid sein muss, um seinem eigenen Leben bewusst ein Ende zu setzen. Und wie schrecklich muss eine solche Situation für den Zugfahrer und die Polizisten sein, die unwillkürlich da hineingezogen werden. Ganz zu schweigen von dem nahen Umfeld eines solchen Menschen, das oftmals noch viele Jahre danach von Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen geplagt wird. Wie betroffen waren z.B. alle vom Selbstmord des Torwarts Robert Enke im Jahre 2009 und wie schuldig fühlte sich der ganze Fußballbetrieb damals.

    Vielleicht hatte die Verspätung aber auch andere Gründe: ein Herzinfarkt oder ein Kollaps. Auch hier dachte ich voller Mitgefühl an den Betroffenen und wünschte demjenigen, dass nichts wirklich Tragisches passiert war. Durch das Mitgefühl verschwand der Groll und wandelte sich in Dankbarkeit dafür, dass es mir selbst gut ging.

    Wer gestresst ist, hat weniger Mitgefühl

    Im Zugrestaurant auf dem Weg nach München traf ich auf den Mann, der seinem Ärger auf dem Bahngleis lauthals Ausdruck verliehen hatte. Wir kamen ins Gespräch. Er erzählte mir, dass diese Verspätung ihm möglicherweise einen großen finanziellen Schaden bringen würde. Der Mann stand offensichtlich sehr unter Druck. Jetzt verstand ich seine emotionale Kälte, als er auf dem Bahngleis von der Verspätung gehört hatte. Der Stress hatte ihn dazu veranlasst, so zu reagieren. Dass Stress unser Mitgefühl reduziert, ist noch nicht allzu lange bekannt. Forscher versuchen bereits lange zu verstehen, was Menschen zu Empathie verlasst oder dazu, das sie gefühlsmäßig überhaupt nicht tangiert sind, wenn einem Mitmenschen etwas passiert.

    Nun haben sie hierzu wichtige Erkenntnisse gewonnen. Jeffrey Mogil, ein Mitarbeiter der McGill University in Montreal führte einen Versuch durch, bei dem er bis zu 26 Studenten mehrfach eine halbe Minute in Eiswasser fallen ließ. Mal waren die Testpersonen bei dem Versuch alleine, ein anderes Mal stand ihnen ein Freund oder eine fremde Person gegenüber, die ebenfalls in das Wasser fasste. Im Anschluss daran mussten die Teilnehmer mitteilen, wie stark sie die Schmerzen in dem Test empfunden haben. Das Ergebnis erstaunte das Forschungsteam: In der Gegenwart eines Fremden empfanden sie keine Schmerzen. In der Gegenwart eines Freundes nahm das eigene Schmerzempfinden hingegen deutlich zu. Die Aussage „Geteiltes Leid ist halbes Leid“ traf hier offensichtlich zu. Es war offensichtlich, dass große Empathie zwischen zwei Menschen herrscht, wenn sie sich nahe sind. Was aber verhindert, dass wir Fremden gegenüber kein Mitgefühl empfinden?

    Weiterlesen ...